Die Gewissensfrage in Psychoanalyse und Analytischer Psychologie - Neue Untersuchung einer alten Wunde

von: Anita von Raffay

Reihe: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beihefte, Band: 21

frommann-holzboog Verlag e.K. , 2006

ISBN: 9783772830167 , 227 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 56,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Gewissensfrage in Psychoanalyse und Analytischer Psychologie - Neue Untersuchung einer alten Wunde


 

D Reflexionen – ein Vergleich (S. 175-177)

Die Ethik ist eine Art Fahrordnung für den Verkehr unter den Menschen.
Brief Freuds an O. Pfister

Die Analytische Psychologie unterscheidet sich im Hinblick auf die Moral- und Gewissenstheorie deutlich von der Psychoanalyse. Ich werde die Unterschiede unter folgenden Aspekten darstellen und diskutieren: 1. Das angeborene Gewissen, 2. Die kindliche Gewissensentwicklung, 3. Die Bedeutung der Objektbeziehungen für das Gewissen, 4. Konvention und Moral – gibt es zweierlei Moralsysteme?, 5. Das Konzept des Unbewußten, 6. Romantik und Religiosität, 7. Prophetentum, 8. Die Suche nach dem Selbst, 9. Konflikttheorie, 10. Schuldgefühle, 11. Politische Implikationen, 12. Ziele der Psychotherapie. Wie schon gesagt, stand die Frage nach dem Gewissen nicht so sehr im Mittelpunkt der Theorie der Analytischen Psychologie, wohingegen die Psychoanalyse dieses Thema immer wieder neu aktualisiert hat, nicht zuletzt, weil es sowohl von theoretischem Interesse ist als auch ein wichtiges klinisches Kriterium für Diagnose, Prognose und Behandlung darstellt.

1. Das angeborene Gewissen

Nach allem, was Jung und seine Nachfolger über das Gewissen geschrieben haben, wird ersichtlich, daß Gewissen und Moral von ihnen als angeboren angesehen werden, genauso wie der Trieb zur Selbst-Synthese, den Jung als Individuation beschrieben hat. Es wird nicht in Betracht gezogen, daß nur die Fähigkeit, ein moralisches Bewußtsein zu entwickeln, angeboren ist.

Dies hängt einerseits mit der Archetypentheorie zusammen, die angeborene Verhaltensmuster voraussetzt, aber auch mit der Tatsache, daß Jung generell die kindliche Entwicklung in seine Theorien nicht miteinbezogen und die Freudsche Theorie als »reduktiv« verworfen hat. Es wird übersehen, daß das in der Kindheit »erlernte« Gewissen mit der Zeit durch eigene Ideale, Wertmaßstäbe und Idealisierungen bewunderter 178 Personen heranreift, wodurch eine eigene individuelle Gewissensfunktion entsteht.

Daraus ergibt sich, daß die analytischen Psychologen, um den Unterschied zwischen primitiver und reifer Moral zu erklären, zwei verschiedene Moralsysteme annehmen müssen, ein angeborenes und ein angelerntes, wobei sie ersteres der reifen und letzteres der primitiven Moral zuordnen.

2. Die kindliche Gewissensentwicklung

Die heutigen Analytischen Psychologen haben, Jung darin nachfolgend, die komplizierten Entwicklungsstadien, die das Kind bei der Entstehung des Gewissens durchläuft, nicht im Blickfeld. Viele Kritiker haben das Fehlen der kindlichen Entwicklung in Jungs Werk beanstandet: »Jung ist anscheinend blind für die fast übermenschlichen Anstrengungen, die das Kind aufbringen muß, um zu einem Kompromiß zu kommen zwischen den zwingenden Mächten seiner primitiven Triebe und der wachsenden Härte der Realität«, schreibt Glover (Glover 1950, p. 67, Übersetzung AR. Siehe auch Winnicott 1964, P. Stern 1977, Homans 1979, Satinover 1986, Smith 1996, McLynn 1996 u. a.).

Im heutigen psychologischen und psychoanalytischen Verständnis dagegen entsteht das Überich, das eine Objektbeziehungs-Struktur ist, im Dialog des Individuums mit äußeren Objekten und später mit inneren Objektrepräsentanzen (siehe auch den Exkurs »Objektbeziehungen«). Die moderne Objektbeziehungstheorie umfaßt sowohl die Art, wie Individuen sich zu anderen verhalten (interpersonal), als auch das intrapsychische Beziehungssystem. Die ersten internalisierten Beziehungen bilden dementsprechend Teile des kindlichen primitiven Überichs.

In der analytischen Behandlung werden internalisierte Objektbeziehungen in der Übertragung / Gegenübertragung zusammen mit den dazugehörigen Affekten reaktiviert, und zwar jeweils mit einer Selbstrepräsentanz und der dazugehörigen Objektrepräsentanz. Durch diese Wiederholung im therapeutischen Setting können primitive Objektbeziehungen und deren Abwehr exploriert und bewußt gemacht werden.