Anmerkungen zu Pathogenese und Psychodynamik der Hysterie - Jahrbuch der Psychoanalyse 17

von: Wolfgang Loch, Hermann Beland, Friedrich-Wilhelm Eickhoff, Wolfgang Loch, Edeltrud Meistermann-Seege

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1985

ISBN: 0009410017205 , 40 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Anmerkungen zu Pathogenese und Psychodynamik der Hysterie - Jahrbuch der Psychoanalyse 17


 

1. a) Abgesehen von den in der klinischen Psychopathologie beschriebenen »speziellen« hysterischen Symptomen autoplastischer Art - die hier keiner Aufzählung bedürfen - zeichnen sich die Hysteriker durch die Fähigkeit aus, b) andere zu manipulieren, z. B. zu Mitleid erregen, zu verführen, in ihnen Schuldgefühle zu erzeugen usw. und c) sich selbst als Opfer von Kräften hinzustellen, die als böse Objekte (z.B. Teufel) ihrem Inneren, ihrer Seele einwohnen, oder aus der Umwelt (zu ihr rechnen die Eltern, die Gesellschaft, der Kapitalismus oder Kommunismus, die Religionen, kurz alle ideologischen Systeme) herstammen und ihnen es verwehren, anders, gesund zu sein. Dabei ist es, wie psychohistorische Untersuchungen leicht zeigen, der »Zeitgeist«, der das eine wie das andere nach Form und Inhalt weitgehend determiniert. Die Hysteriker - und insbesondere trifft das für Hysterikerinnen zu - übernehmen so gewisse Rollen, die der »Zeitgeist« (die gesellschaftlichen Verhältnisse) entwarf und zur Verfügung stellt. Damit stabilisieren sie zugleich die Gesellschaftsstruktur die ihnen entspricht. Z.B. bestätigt bekanntlich die hysterische Frau, die die Rolle eines passiven Kind-Weibes spielt, die Überlegenheit des Mannes (er bedarf seinerseits dieser Bestätigung!), dem sie sich so als zu bestimmendes Objekt anbietet. Zugleich aber rächt sie sich dafür, indem sie sich als gleichwertige Sexualpartnerin verweigert. So verrät sie, daß hinter der »harmlosen« Fassade die Rebellion gegen die offizielle Norm wirksam wird. Insofern verkörpern Hysteriker (wie andere Neurotiker auf die jeweils ihnen gemäße Weise) ein latent subversives Potential allerdings aus sehr privaten Gründen und nicht um willen gesellschaftspolitischer Ziele. In bezug auf die unter (b) und (c) genannten Fähigkeiten der Hysteriker gilt u.E., daß sie Dominanz über (a) besitzen, und zwar in dem Sinne, daß auch die unter (a) zu subsumierenden Phänomene, obgleich sie von den Patienten und von ihrer Umwelt nicht als Handlungen interpretiert werden, sondern als ein Leiden, ein Schicksal, das ihnen widerfährt, Handlungen, allerdings solche, die unbewußt determiniert sind, darstellen. Hinzu kommt, (b) und (c) erlauben, gelesen unter dem Aspekt der sich manifestierenden und exekutierten Objektbeziehungen, rasche und zuverlässige Schlüsse auf die zugrunde liegende Psychodynamik. 2. Alle genannten Phänomene lassen ohne weiteres erkennen, daß, falls man mit der Psychoanalyse ihre Abhängigkeit von dynamisch unbewußten Determinanten (»geheimen Motiven«, S.Freud) zugrunde legt - die letzten hundert Jahre psychoanalytisch-klinischer Erfahrung haben dafür erhebliches Beweismaterial erbracht an ihrem Zustandekommen der Mechanismus der »Verdrängung«, und zwar im Sinne des »Nachdrängens« (der dritten Form der Verdrängung nach A. Parkin I.e.) in ganz entscheidender Weise beteiligt ist. Auch daraus ergibt sich, daß Hysteriker hinter der Maske der Passivität höchst aktiv sind, denn »Verdrängung« ist eine aktive Leistung, wenn auch unbewußter Natur. 3. Die Untersuchung der Frage, was ist verdrängt, worin besteht der Inhalt des Verdrängten und wieso muß das »herrschende Ich-Bewußtsein« diesen Inhalt unbedingt von sich fernhalten, hat ergeben -und wiederum ist auf die Erfahrungen der psychoanalytischen Forschung zu verweisen - , daß a) sexuelle Verführungen »direkter« oder »indirekter« Art (letztere hat M.Balint - s. Anm. 9 - in seinem Drei-Stufen-Schema der Traumagenese beschrieben), die in frühen Phasen der psychischen Ontogenese sich ereignen, und/oder b) primär phallisch-vaginale, masturbatorische, autoerotische Akte - die ihrerseits auf das Objekt, letztlich auf den »prähistorischen Anderen« (S. Freud) verweisen - bzw. die mit ihnen verknüpften oder sie ersetzenden Phantasien, die nicht bewußtseinsfähig sind, und daß c) (a) und (b) in den hysterischen Phänomenen zur verschlüsselten Darstellung gelangen. 4. Von besonderer Bedeutung für die Pathogenese scheint uns der von S. Freud »Nachträglichkeit« genannte Faktor zu sein, d. h., die frühesten primären Ereignisse, die in der klinischen Betrachtung als Traumen konfigurieren, erhalten ihren traumatischen Charakter, werden also erst »traumatogen« durch ein späteres Vorkommnis, das über zumindest einen, in der Regel wohl stets über mehrere »Zeichen«, i. e. Signifikanten, mit dem Primär-Ereignis» kommuniziert. Indem solche Verhältnisse als ubiquitär zu betrachten sind, besteht S. Freuds Einsicht zu Recht, daß jeder Mensch den Keim zur Hysterie in sich trägt und damit den Keim zu neurotischen Entwicklungen überhaupt, ist es doch die «Nachträglichkeit», die auf die «Verdrängungszeit» hinweist, der S. Freud einmal eine «bevorzugte» Stellung gegenüber der «Entstehungszeit» («die . . . auf die erste Kindheit fixiert erscheint») einzuräumen bereit war (S.Freud, Brief 57 vom 24.1.97, I.e. S.202), der Zeit also, in der bestimmte neue Vorkommnisse den Einsatz der Abwehrmechanismen erforderlich machen, die dann, indem sie das «herrschende Ichbewußtsein» vor der Realisierung bzw. Konfrontation mit den unter (3a) und/oder (3b) erwähnten Handlungen bzw. Vorstellungen schützen, zugleich das dynamisch Unbewußte zur Existenz bringen, denn «Verdrängung und Unbewußtes sind im . . . großem Ausmaß korrelativ» (S.Freud, 1915a, S. 250). 5. Diese Handlungen, und damit wird etwas über die Psychodynamik gesagt, sind im Falle der Hysteriker perverse Akte bzw., insofern sie als abgewehrte Perversionen zu verstehen (S. Freud) sind, deren autoplastisch- somatischer Ausdruck. Insofern es sich um die unter (lb) genannten Erscheinungen handelt, sind die auf interpersonaler Ebene von den Hysterikern hergestellten Verhältnisse das exakte Abbild der perversen Relationen, z. B. Verführungen, welche über Frigidität sado-masochistischen Charakter gewinnen. Man denke auch an die heftigen, in oft lautstarken Szenen sich äußernden Auseinandersetzungen, die Hysteriker unter ihren Angehörigen oder auf Krankenstationen unter dem Pflegepersonal bzw. unter den Mitpatienten zu erzeugen wissen. Solche Phänomene verraten, daß «belle indifference» und beteuerte Unschuld zur Fassade, zur «bewußten Person» gehören. Darunter steckt eine «Tiefenperson», die die Macht besitzt, ihre Umwelt mittels Externalisation ihrer «inneren Objekte» zu manipulieren. Der Hysteriker wird so zum sadistischen Akteur und zwingt den bzw. die Anderen in die Rolle der frustrierten, masochistischen Opfer (zu deren Annahme sie freilich ihrerseits eine Disposition mitbringen), ein Vorgang der dem Wesen jeder sado-masochistischen Struktur und Dynamik entspricht (M. C. Gear, M. A. Hill u.E.C.Liendo, 1981). 6. Der sado-masochistische Charakter der Phallus-Vagina-Interaktion - eine vom bewußten Ich «abgelehnte Perversion» (S. Freud), in dem wir mit anderen Autoren den wesentlichen gemeinsamen Nenner aller hysterischen Phänomene sehen, folgt aus der Tatsache, daß (S. Freud) beim Hysteriker die klassisch-ödipale Situation zwar fürs Unbewußte, nicht aber fürs Vorbewußte gegeben ist. Dadurch muß in Verbindung mit den ersten beiden Niederschriften bzw. Umschriften und den ihnen zugehörigen Besonderheiten, die das psychische Material im Laufe der Ontogenese erfährt, die «Sexual-Objekt»-Beziehung «Partial-Objekt»-Charakter tragen, und zudem wird sie als reine ungehemmte Triebbeziehung sadistische bzw. masochistische Modalität besitzen. 7. Der sado-masochistische Charakter der phallisch-vaginalen «Sexual-Objekt»-Beziehung wird aber nicht nur durch den phasenspezifischen Triebmechanismus bedingt, er hat insofern eine psychodynamische Bedeutung, als er, wie die exekutierte «Sexual-Objekt»-Beziehung überhaupt, als ein Geschehen zu lesen ist, welches dem Versuch dient, eine Beziehung zum primären libidinösen Objekt (im Regelfall die Mutter) herzustellen. Dies gilt, weil die Untersuchungen der hysterischen Persönlichkeiten ergeben haben, daß diese letztlich eine zentrale Unsicherheit bzgl. des inneren Besitzes eines konstanten «libidinösen» Objektes haben. Dieser Faktor erklärt auch, daß man so häufig von oralen, prägenitalen Verhältnissen bei Hysterikern spricht. Solche Formulierungen sind unseres Erachtens dann richtig, wenn sie implizieren, daß es sich um eine «Oralität» handelt, die im Rahmen der klassischen, für das Unbewußte geltenden Ödipussituation sich auswirkt und damit für beide Elternteile wechselseitige Relevanz hat, so daß es auch korrekter ist, von sado-masochistischen phallisch-vaginalen Beziehungen zu reden, in Abhängigkeit nämlich von der Frage, welches Partialobjekt primär aggressiv-sadistisch besetzt wird, was wiederum eine Funktion der gerade herrschenden vaginalen oder phallischen Identifizierung ist. In diese Zusammenhänge hat uns N. Nagera mit der Aufstellung des invertierten Ödipuskomplexes tiefe Einsichten vermittelt. Bei Borderline-Neurosen oder narzißtischen Neurosen im engeren Sinne ist die Wechselseitigkeit, von der hier die Rede ist, nicht gegeben, da in diesen Fällen die klassisch ödipale Situation nicht erreicht wurde. 8. Für die Behandlungstechnik ergibt sich aus unseren Überlegungen, es ist für den Hysteriker von zentraler Wichtigkeit, durch die psychoanalytische Kur «libidinöse» Objektkonstanz zu erfahren. Dies kann geschehen, indem die psychopathologischen Phänomene «exakt» analysiert werden, denn genau dadurch und darin zeigt sich die Konstanz (Stetigkeit), die Zuverlässigkeit und die Wahrhaftigkeit eines Objektes, i. e. des Analytikers, das, indem es diese Eigenschaften im Rahmen des psychoanalytischen Dialoges und des psychoanalytischen «Settings» handelnd exemplifiziert, zum konstanten libidinösen Objekt wird. Insofern der Analysand an solchem psychoanalytischen Dialog tätig-verstehend teilnimmt, gewinnt er zugleich Zugang zu einer «unsinnlichen Seins-Schicht" »emotionaler Wahrheit«, die allem sagbaren Wissen vorausliegt (W. R. Bion, 1965; W. R. Bion, 1970; M. Eigen, 1981), die identisch ist mit seiner »Bedeutung stiftenden Fähigkeit«, mit seiner »Kreativität« überhaupt (M. Eigen, I.e., S. 429, 431) und somit Garant für ein psychisches Leben, das nicht fortwährend der »Verirrung« und den »Trübungen« durch »Motivationen« anheimfällt - denn den »Keim zur Hysterie« (s. oben S. 146) tragen wir stets in uns - , von denen F. Kafka (1953, S. 109, 103) schrieb, daß sie ihm den Ort der (seiner) Wahrheit verbergen.