Das Fremde ist das Deutsche - Jahrbuch der Psychoanalyse 35

von: Christoph Biermann, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Ilse Grubrich-Simitis

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1996

ISBN: 0009410035209 , 100 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Das Fremde ist das Deutsche - Jahrbuch der Psychoanalyse 35


 

»Wie verträgt sich das Erbe Freuds mit unserem immer deutlicheren deutschen Bewußtsein« (Beland 1989, 7)? Mir scheint, hier liegt ein unvereinbarer Gegensatz vor, insofern Deutschland, deutsche Sprache und Kultur, geschichtlich Ort und Zeit für Aufklärung, Heimat, Nazismus und Auschwitz sind. Dieser unlösbare Konflikt stellt für Deutsche eine Aufforderung dar zur transgenerationellen Wiederherstellung der humanen Orientierung in Richtung einer »depressiven Position« auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene. Der Begriff der »depressiven Position« stammt bekanntlich historisch aus der Kleinianischen Psychoanalyse. Ich sehe darin einen zentralen Beitrag für die theoretische Psychoanalyse, insofern mit diesem Begriff die Fähigkeit zu seelischer Strukturbildung bezeichnet ist, Spaltungen zugunsten von Ambivalenz zu sublimieren, etwa i. S. der Triebmischung (vgl. Laplanche & Pontalis 1967; 1972, 57). Vor diesem Hintergrund ist – von Ausnahmen abgesehen – weiterhin nach typischen »deutschen psychoanalytischen Prozessen« zu fragen, in denen unbewußt freie Assoziationen, gleichschwebende Aufmerksamkeit und Deutungen die Analyse des hier gemeinten unauflösbaren Widerspruches vernachlässigen, d. h. im Zustand der Spaltung verharren. Wie ist es möglich, mit diesem Konflikt zu leben? Was heißt hier und heute konkret in diesem Zusammenhang psychoanalytisch und historisch »Wiederherstellung der humanen Orientierung in Richtung einer depressiven Position«? – Das heute Fremde der NS-Zeit läßt sich theoretisch als Grundannahme (Bion 1961) der »Beziehungswillkür« im Dienst maximaler Machtentfaltung mittels kollektiver Kriminalität der Gesellschaft erwachsener Menschen beschreiben. Darin wurde der trangenerationelle Grundkonflikt von »child saving and child killing« (Kestenberg & Kestenberg 1987) zugunsten des letzteren funktionalisiert. Träger der Grundannahme war die Mehrheit der erwachsenen Deutschen 1933-1945 als Täter und Mitläufer. – Wir jetzigen Deutschen sind ganz überwiegend die Nachkommen dieser Täter und Mitläufer und haben mit einer zunächst unbewußten transgenerationellen Nachwirkung des NS als Vermächtnis und Last i. S. einer Transposition zu rechnen. Verleugnung, projektive Identifizierung und Agieren dieser Nachwirkung können - wiederum transgenerationell - durch Bewußtwerdung und Tathandlung in Erinnerung und Neubeginn umstrukturiert werden. – Die Fähigkeit zu trauern angesichts des NS als Erinnerung und Neubeginn setzt gegenüber der Dominanz der Todestriebe (Freud) als einer Conditio inhumana im Nazismus eine transgenerationelle Wiederbelebung der Lebenstriebe (Freud) in Richtung Sublimierung als Conditio humana voraus. Charakteristische Ziele für diese Sublimierung sind die Begrenzung der unvermeidlichen Massenpsychologie - nicht zuletzt durch Subjektivität - auf ein »benignes« Niveau (Kernberg 1993) und das Akzeptieren des Grundkonfliktes von »child saving and child killing« in der Welt der Erwachsenen. Ein Akzeptieren dieses Grundkonfliktes impliziert angesichts der unvermeidlichen psychologischen Ambivalenz Verzicht auf eine Neutralität des unbeteiligten Zuschauers oder auf eine gutgemeinte Naivität des Mitläufers; denn beides würde - das zeigt die historische Erinnerung und Reflexion - der Triebentmischung, also Spaltungsprozessen, zum Ubergewicht verhelfen. Der Grundkonflikt braucht zu seiner strukturgebenden Durchsetzung einen historischen Primat der Lebenstriebe in der Generationenfolge. So betrachtet setzt die traditionelle Ethik der Konfliktpsychologie in der Psychoanalyse (d. h. die Frage nach der Wahrheit) eine Ethik der Beziehungspsychologie (d. h. die Frage nach der Liebe) voraus. Wenn vor der Zeit des Nazismus die Frage nach der Wahrheit in der Psychoanalyse vielfach im Vordergrund des Interesses stand, muß nach der Zeit des Nazismus die Frage nach der Liebe in den Mittelpunkt rücken. Keine dieser beiden - oft, aber nicht immer, in Gegensätzen auftauchenden - Fragen kann ohne die andere verständlich und historisch wirksam bleiben.