Psychische Realität – Materielle Realität. Genese – Differenzierung – Synthese - Jahrbuch der Psychoanalyse 34

von: Wolfgang Loch, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Ilse Grubrich-Simitis; Lud

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1995

ISBN: 0009410034203 , 39 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Psychische Realität – Materielle Realität. Genese – Differenzierung – Synthese - Jahrbuch der Psychoanalyse 34


 

Die Einteilung der uns begegnenden Phänomene erfolgt nach pragmatischen Gesichtspunkten. Das heißt, das Leben konfrontiert uns mit Fragen und Unsicherheiten, die Lösungen verlangen. Wir wählen jeweils die Lösung, die uns jeweils als die beste imponiert. Auf diese Weise entstehen die Polaritäten Leib - Seele, Subjekt -Objekt, materiell - abstrakt, innere, psychische Realität - äußere, konkrete Realität usw. Die Differenzierung äußere - innere Realität ist zu verknüpfen a) mit Freuds Feststellung, daß äußere Realität durch Muskelaktion zum Verschwinden gebracht werden kann, was für die innere Realität nicht zutrifft; b) mit der Rolle, die unseren Formen der Anschauung zukommt: externe Objekte können mit räumlichen und zeitlichen Indices verknüpft werden, psychische nur mit zeitlichen (Kant). c) Aus der Akzeptanz dieser Auffassung ergibt sich eine wichtige Konsequenz: Wenn nämlich unbewußte Phänomene zeitlos sind (Freud), dann besitzen sie keine psychische Natur. Sie haben vielmehr den Charakter externer, lokalisierbarer Phänomene. Für die psychoanalytische Therapie folgt, daß sie dann erfolgreich, mutativ werden kann, wenn es gelingt, daß Deutungen als konkrete, externe Wirklichkeit erfahren werden. Freud hatte (1900, II, III, Anm. 558) unterstrichen, daß die Psychotherapie der Neurosen darauf beruht, daß »die vom vbw. System abhängigen Vorgänge . . . zerstörbar« sind und damit festgestellt, das Ubw. sensu strictori ist nicht beeinflußbar. Es ist allerdings möglich, daß Deutungen, Konstruktionen, wenn sie konkret erlebt werden, eine neue Basis für das Handeln und Denken des Analysanden legen, s o wie die Gleichzeitigkeit von Erleben - Handeln - Sprechen in der Kind-Mutterdyade grundlegende psychosoziale, mentale und sprachliche Grundmuster zur Entstehung bringt (s. Anm. zu §30). d) Die Unterscheidung zwischen dem ,logischen’ (prädikativen) und dem ,ontischen’ (existenzsetzenden) Gebrauch des Seins (Kant) wird erläutert, und die Rolle der Wahrnehmung für das Urteil »X existiert« unterstrichen. Zugleich wird die fundamentale Bedeutung des Verstehens, der Ideen, der noesis, ein »unmittelbar geistiges Erfassen« (Kl. Oehler, z. B. 42, 88), das »nicht diskursive Struktur hat«, festgehalten (1. c., 42), wobei inkludiert ist, daß der Weg von der Idee zur diskursiv-logischen Zergliederung und umgekehrt verlaufen kann (1. c. 88, 114). – Die Phantasien in ihrem Ansatz sind im Sinne Freuds »endopsychische Wahrnehmungen. Sie betreffen insbesondere auch die «tiefsten Schichten des seelischen Apparates» (Freud, 1923, XIII, 249). Wir fassen sie als Konstruktionen auf, die ihrerseits in Abhängigkeit von gesamtgesellschaftlich bedingten Ideologien und insbesondere der Grammatik (F. Nietzsche, 1885, Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, §20. spricht von «der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen», und L. Wittgenstein sieht «grammatische Regeln» als konstitutiv für die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit an. S. dazu M. G. Hintikka u. J. Hintikka, I.e. S.28f., 247, 275f.) gebildet werden'. Die Konstruktionen beziehen sich auf diachrone wie auch auf synchrone Dimensionen. Jene gehören zur phylogenetischen, archaischen Erbschaft, diese zur Ontogenese der Person. Beide Bereiche sind zuweilen getrennt, in der Regel interagieren sie. D i e psychoanalytischen Anstrengungen zielen darauf ab, die aufgrund dieser Zusammenhänge erwachsenden Symptome und Konflikte mittels ihrer Deutungstechnik herauszuarbeiten, um Möglichkeiten zu ihrer Uberwindung zu eröffnen. Im Deutungsprozeß konstruieren die Partner des psychoanalytischen Dialoges im Rahmen einer Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik, die wir als «zwei Aspekte eines einheitlichen Phänomens» (H. B. Levine, 1994, 665-674, 668) begreifen, ihre psychische Realität im «Hier und Jetzt» in der Hoffnung, daß dadurch eine bessere Grundlage für die innere Befindlichkeit und für zukünftiges Handeln erreicht wird. – Nach Auffassung des Verfassers sind Konstruktionen, Interpretationen diejenigen Geschehnisse, mit deren Hilfe wir die Welt und uns selbst auslegen, erklären und verstehbar machen, d. h. sie sind, solange sie gelten, die innere wie die äußere Welt und solange gelten sie «unbedingt» - unbedingt, weil jetzt und hier ihre Verneinung einer «Verneinung des Lebens» gleichkäme, das gerade in ihrer Geltung seine uns verbindende Basis hat (F.Nietzsche, 1885, KSA, 11, 35 [37]). Diese Betrachtungsweise hat sich aus der Historisierung der Metaphysik ergeben. Sie inkludiert auch die Einsicht, daß Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen aufgrund einer holistischen Basis bewußtseinsfähig werden, d. h. in einer Lebensform verankert sind. Letztere durchläuft ihrerseits Entwicklungen, unterliegt also der Zeit und hat demnach begrenzte Gültigkeit. An der Gewinnung solcher Erkenntnisse hat Freud einen bedeutenden Anteil; es wurde mehrfach darauf hingewiesen. Er steht damit in der Tradition derjenigen Denker und Forscher, die eine unversöhnliche Zweiteilung der Welt in Geist und Materie zu überwinden halfen, ohne allerdings zu bestreiten, daß Verstehen, daß unmittelbares Erfassen (siehe oben Punkt 5) kein kontingenter Akt ist. – Sollte es mittels der Transformation unbewußter Dynamik in bewußtes Erleben gelingen, die innere Welt mit der äußeren Welt und vice versa in (zumindest ausreichender Weise) in Übereinstimmung zu bringen - d.h.: «die Gegnerschaft zwischen Ich und Es» (S. Freud, 1926e, XIV, 229) in wesentlichen Bereichen zu reduzieren, was dem Erleben einer nicht gespaltenen und also ,jetzt’ nicht hinterfragbaren Realität gleichkommt - dann gibt es eine Basis für die Gewinnung einer veränderten Erfahrung der gemeinsamen Wirklichkeit. Ein Denken und Handeln könnte möglich werden, das erlaubt, daß der Eine dem Anderen das Seinige gönnt, Grundlage für ein verträgliches Leben der Menschen untereinander. Freilich, es handelt sich hier um eine Idealfiktion, deren volle Realisation an der Unzerstörbarkeit des im «System Unbewußt» bzw. im «Es» (S. Freud, 1900, II/III, 558, 583; 1930, XIV, 503; 1926 e, XIV, 222; S. Freud, 20.07.1938, XVII, 151) niedergelegten archaischen Erbes und an der Unmöglichkeit, zukünftige akzidentelle Faktoren vorauszusehen, immer wieder scheitern wird. Doch der wäre töricht zu nennen, der ,foci imaginari’ nicht im Auge behielte, und zwar gerade auch dann, wenn er zu wissen glaubt, daß kein Einzelner sie je wird erreichen können.