Freuds Verführungstheorie - Jahrbuch der Psychoanalyse 28

von: Emanuel E. Garcia, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Edeltrud Meistermann-S

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1991

ISBN: 0009410028205 , 29 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Freuds Verführungstheorie - Jahrbuch der Psychoanalyse 28


 

Freud schrieb den Verführungsszenen ihre verdeckende und ödipale Funktion nur zu, wenn er Grund zu der Meinung hatte, daß die berichteten Verführungen nicht wirklich vorgefallen waren (obwohl auch ihr Vorgefallensein solche Operationen nicht unbedingt ausschloß). Die Erkenntnis des Ödipuskomplexes bei der Untergruppe von Patientinnen, die behaupteten, sie seien von ihrem Vater verführt worden, war nicht der erste Schritt. Vorher kam Freuds Einsicht, daß die Verführungsszenen Phantasien sein konnten, und seine Entdeckung, daß sie als solche den Zweck hatten, die autoerotische Sexualität der Kindheit zu verdecken, deren Erforschung dann zur Entdeckung des Ödipuskomplexes führte. Der Grund, warum das Festhalten an der Verführungstheorie von 1896 „folgenschwer" oder gar für die Psychoanalyse „verhängnisvoll" gewesen wäre, hat mit dem Glauben oder Nicht-Glauben an die Realität von Kinderverführungen per se nichts zu tun. Entscheidend war die Gefahr, daß diese Theorie die psychoanalytische Erforschung der infantilen Sexualität hätte verhindern können. Was die Folgen seiner Befreiung von den engen Annahmen über die Kindheit betrifft, die ihn 1896 noch hemmten, hatte Freud zeit seines Lebens ein klares, gleichbleibendes Bild. Es wird besonders gut in der Selbstdarstellung zusammengefaßt: „Nach der Aufhellung des Irrtums war der Weg zum Studium des infantilen Sexuallebens frei. Man kam da in die Lage, die Psychoanalyse auf ein anderes Wissensgebiet anzuwenden, aus ihren Daten ein bisher unbekanntes Stück des biologischen Geschehens zu erraten" (1925 d, S. 60). Es erscheint kaum zweifelhaft, daß Freud auf dem Weg der objektiven Würdigung des Materials, das die freie Assoziation erbrachte, auch dann über kurz oder lang auf die infantile Sexualität gestoßen wäre, wenn er sich nicht davon überzeugt hätte, daß manche der Verführungsszenen Phantasien waren. Schließlich spielte die Verführung in der Ätiologie der Neurosen weiterhin eine, obwohl gewiß bescheidenere, Rolle. Sie wurde aber nun der übergreifenden Rubrik „sexuelle Betätigungen des Kindesalters“ zugeordnet. Wenn eine Verführung stattfand, dann im Rahmen der Entwicklung und Naturgeschichte dieser infantilen Sexualäußerungen. Verführung und spontane Sexualität sind nicht unvereinbar, sondern können sehr wohl nebeneinander bestehen. Freuds Erkenntnisweg imponiert im Rückblick als ungemein vernünftig. Und sein Betragen als Forscher kann jedem Wissenschaftler zum Vorbild dienen. Als er sich Daten gegenübersah, die einigen seiner Leitvorstellungen widersprachen, paßte er seine Theorie den Fakten an und nicht umgekehrt. Viel mehr kann man von einem Mann der Wissenschaft nicht verlangen; für die meisten ist es eine überschwere Aufgabe.Mit der Weiterentwicklung der Psychoanalyse machte die „histopathologische“ Spezifität, die für Freuds frühe Suche nach der Ätiologie der Neurosen kennzeichnend war, einer tieferen und breiteren Perspektive Platz. In seinen letzten Lebensjahren rechnete Freud mit einer Kombination von konstitutionellen und akzidentellen Faktoren, neben biologischen, kulturellen und phylogenetischen Einflüssen, und überließ es „zukünftiger Wissenschaft..., die jetzt noch isolierten Daten zu einer neuen Einsicht zusammenzusetzen" (1940 a, S. 113).