Über einige Zusammenhänge zwischen Psychoanalyse und Philosophie - Jahrbuch der Psychoanalyse 25

von: Wolfgang Loch, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Edeltrud Meistermann-Seege

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1990

ISBN: 0009410025203 , 67 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Über einige Zusammenhänge zwischen Psychoanalyse und Philosophie - Jahrbuch der Psychoanalyse 25


 

Es wurde versucht aufzuzeigen, daß zwischen Psychoanalyse und Philosophie in den folgenden Hinsichten Berührungspunkte, d. h. Zusammenhänge bestehen: 1. Insoweit Freud es unternahm, Psychoanalyse als Naturwissenschaft zu begründen, und dafür die vier metapsychologischen Gesichtspunkte Ökonomie (Energetik), Dynamik, Topik und Struktur einführte, läßt sich zeigen, daß diese vier Koordinaten ihre Entsprechung in Kants transzendental-philosophischen Kategorien, wie sie in seiner „Kritik der reinen Vernunft" und in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" niederlegt sind, haben. 2. Insoweit Freud die Psychoanalyse als Teil der Biologie begriff, finden sich mannigfaltige Hinweise, die die Behauptung rechtfertigen, daß er eine holistische Auffassung, einen biologischen Funktionalismus (K. V. Wilkes) zugrunde legte, wie er etwa von Aristoteles vertreten wurde. 3. Freuds Bekanntschaft mit Brentano, seine Vertrautheit mit dessen Lehre von der Intentionalität zeigen uns, daß hier enge Verbindungen zu Freuds Auffassung der psychischen Realität und seinem Festhalten an Bedeutung-Haben, besser Bedeutung-Sein des Psychischen bestehen. Damit wird die ganze Problematik des Bedeutungs-Begriffes, seine Verankerung in der Praxis der Lebensform und seine Verflechtung mit der Sprache sowie insbesondere auch seine Differenz zum Begriff Relevanz für die Psychoanalyse wichtig. 4. Die eminente Rolle, die Freud der Sprache zuwies - den Worten, den Zeichen - , und wie er sie mit der psychologischen Dimension der Affekte und Emotionen verknüpfte, bildet die Grundlage für das Verständnis des Freudschen Beitrages zur Differenzierung von Bewußtseinsstufen und erlaubt es, eine Theorie über die psychosomatischen und medizinisch-therapeutischen Effekte der Psychoanalyse aufzubauen. 5. Die in (3.) und (4.) aufgezeigten Perspektiven führen zu vielfältigen Berührungspunkten zwischen Psychoanalyse und Sprachphilosophie einschließlich der Sprechakttheorie. Auf diese Weise lassen sich eine Reihe von Folgerungen ableiten, die wichtige Positionen der Psychoanalyse betreffen, wie z.B. das Wesen der Deutungen und Rekonstruktionen, ihre Interpretationslehre überhaupt, so daß auf deren mögliche Effizienz und ihren Wahrheitsgehalt ein neues Licht geworfen wird (vgl. W. Loch, 1986, 1988). 6. Freuds Umgang mit dem „empirischen Ich“ der Psychoanalyse läßt erkennen, daß er, wenn nicht explicite, so doch implicite Kants transzendentales (und logisches) Ich in seinen theoretischen Argumentationen und für die psychoanalytische Technik voraussetzte. Allerdings, um Mißverständnisse in dieser Frage zu vermeiden, ist Kants Hinweis zu beachten, daß es nicht um „ein doppeltes Ich, aber doch um ein doppeltes Bewußtsein dieses Ichs“ geht (1798,1800, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 26, Anm.). 7. Die emanzipatorische, kritische Funktion, essentiell für die psychoanalytische Arbeitsweise, findet ihre Entsprechung im Begriff Kritik, spätestens Kennzeichen der Philosophie seit Kant, und sicher ein Höhepunkt in Nietzsches Philosophie. 8. Sowohl die Freudsche Psychoanalyse wie die Philosophie Nietzsches zeigen eine Gemeinsamkeit abgründiger Natur. Beide Denker gelangen zu einer esoterischen Lehre. Bei Nietzsche betrifft sie den „Willen ins Nichts“, bei Freud ist sie in seinen Spekulationen über den Todestrieb enthalten. Hier geht es um eine Biologie vom „Aspekt des Todes“ (K. R. Eissler). Diese Perspektive in Verbindung mit der Einsicht, daß uns ewige Wahrheit unerreichbar ist, daß womöglich gilt, der „,Wille zur Wahrheit‘ - das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein" (F. Nietzsche, 1886, 344; s. auch: J. Simon, 1989, 253), erfordert eine Art Einstellung zu sich selbst wie zu den anderen Menschen, die im Vergänglichen die Kostbarkeit des Lebens erfährt. 9. Daß sich überhaupt Berührungspunkte und Zusammenhänge zwischen Philosophie und Psychoanalyse aufzeigen lassen, beruht einmal darauf, daß die Psychoanalyse an entscheidender Stelle ihrer Untersuchungen immer auch die Frage der Berechtigung, nach der „Befugnis“ oder auch „Anmaßung", i.e. nach der Begründung der seelischen Phänomene stellt."' Es ist die quaestio iuris Kants (Kant, KV B 177, A 84), die uns erlaubt, die Psychoanalyse zu den kritischen Wissenschaften zu rechnen. Kritische Wissenschaften haben immer auch eine pragmatische Ausrichtung, nämlich weil sie fragen, was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich macht, wie er es macht und inwieweit er dazu berechtigt ist. Das pragmatische Moment hat für die Psychoanalyse führenden Charakter, denn eine Deutung stellt ja dem Analysanden „vor Augen", „was er in der Dimension seiner psychischen Realität tut“ - es gelangt in den Konstruktionen der „unbewußten Phantasien", die gleichsam der Tiefengrammatik der Seele entsprechen, zum Ausdruck-, und dies steht infolge der ständig wirkenden Abwehrvorgänge im Gegensatz zu dem, was er in seiner manifesten Rede und ihrer grammatisch korrekten Oberflächenstruktur zum Ausdruck bringt. Die Deutung, die auf die Bedingung der Möglichkeit des manifesten Inhaltes zielt, darf insofern mit Recht ein „transzendentales Argument“ genannt werden (F. Kambartel, 1989, 37/38), womit die Psychoanalyse in die Philosophie eintaucht. Deutlich wird das vor allem bei regredierten Patienten, für die als therapeutisches Instrument die „Objektbeziehung" Vorrang vor der klassischen „Deutung“ der Übertragung und des Widerstandes haben muß (M. Balint, 1968, 210 f.). Es wäre aber falsch, anzunehmen, daß nicht auch in diesen Zuständen Worte, verbale Interventionen wichtig sind. Sie haben den Charakter von Beschreibungen solcher interpersonaler Verhältnisse, die es dem Patienten erlauben, eine neue Basis für sein Denken und Handeln zu finden, indem - wie es Balint (I.e., 208) aufzeigte - der Analytiker zu erkennen gibt, daß er eine bestimmte Verhaltensweise (in diesem Fall in bezug auf die Gewährung einer Extra-Sitzung) einnimmt, um deutlich zu machen, daß „keiner von (den) beiden (Dialogpartnern) allmächtig (ist), jeder seine Grenzen“ einräumt, „in der Hoffnung, daß auf diese Weise eine fruchtbare Zusammenarbeit . . . zustande kommen könnte ..." (I.e.). Dies ist eine Form der „Therapie", der es um „Lebenszusammenhänge und -Verständnisse geht" (F. Kambartel, I.e., 48), die die „(moralische) Selbstbestimmung'" (I.e., 21, Anm. 6) begünstigen. Freud hat offenbar Interventionen dieses Typs verwendet, so z.B., als er H. D. (1956) die Deutung gab: "The trouble is – 1 am an old man - you do not think it worth your while to love me" (I.e., 23, i. O. hervorg.), die ja offensichtlich darauf abzielte, eine Überlegenheit des Analytikers zu reduzieren, so daß das Gespräch ohne zu großes Machtgefälle weitergehen kann. Wittgenstein hat ihr Prinzip entwickelt und angewandt, indem er der „Lebensform" Vorrang vor der Sprache gab, d. h. diese durch jene für korrigierbar erachtete, wie es etwa der programmatische Satz ausdrückt. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (1945, § 116)*. Setzen wir für metaphysisch „neurotisch", durch „Primärvorgänge" entstellt, dann sehen wir, die Psychoanalyse verfolgt ein paralleles Ziel, nämlich ein verzerrtes Sprachspiel aufzulösen zugunsten eines Sprachspiels, dessen Lebensform vom Prinzip bestimmt wird, „der Mensch existiert als Zweck an sich selbst" (Kant, 1785, 1786, BA 64, i. O. hervorg.). Dies mag sich womöglich genau dann realisieren, wenn ein „Satz", eine Deutung, „nicht eine bestimmte Beziehung zur Wirklichkeit hat (dies wäre noch ,Theorie', W.L.), sondern ..., daß er sie hat" (G. Brand, I.e., 50, i. O. hervorg.; L.Wittgenstein, 1910-1914, 2.11.1914). Ist dies gegeben, dann kann, weil nunmehr sich rein praktisch ein verändertes Selbstbewußtsein einstellt, ein Neu-Anfang (S. Ferenczi, M. Balint) sich ereignen, bzw. hat sich schon ereignet. Wir beobachten das z. B. beim "Flash-Phänomen“ (M. Balint) oder bei der Transformation von Bions „O" in eine verbale Formulierung. Mit der Philosophie hat die Psychoanalyse eine zweite gemeinsame Ausrichtung: Weil der Mensch Subjekt, Ich ist, und also nicht definit prädizierbar, sich vielmehr stets selbst überschreitet, sind Psychoanalyse wie Philosophie unabschließbar. In der Rede von der unendlichen Analyse kommt letzteres zum Ausdruck. Ein weiterer wesentlicher Grund für den Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Philosophie liegt darin, daß die letztere ja nicht nur gemäß ihrem „Schulbegriff" „die logische Vollkommenheit zum Zwecke" hat, sondern auch einen „Weltbegriff" kennt und „in dieser Absicht" (als) „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" ist (Kant, KV A 839, B 867). Im letzteren Sinne handeln beide Disziplinen par excellence von der Frage nach dem Menschen schlechthin und betreffen die Dinge, für die „jedermann (sich) notwendig interessiert" (Kant, KV, A 841, B 869, Anm.). Neben dieser Übereinstimmung in einer entscheidenden Zielsetzung gibt es allerdings zwischen Philosophie und Psychoanalyse Unterschiede hinsichtlich der anzuwendenden Methode. Aber vielleicht darf man sagen, es gab sie, denn die Psychoanalyse Sigmund Freuds, wenngleich nicht ohne Einsicht in die Notwendigkeit der Setzung transzendentaler Postulate (J. P. Fell), hat in hervorragender Weise, die auch für andere Humanwissenschaften exemplarisch ist, durch ihre Technik, durch ihre Praxis dazu beigetragen, aufzuzeigen, wie es gelingen kann, die Selbsterkenntnis zu erweitern, die Beurteilung der intersubjektiven Realität zu vertiefen, den Spielraum der Freiheit zu vergrößern. Allerdings hat sie damit auch die Verantwortlichkeit des einzelnen wie die der Gesellschaft für das Gelingen eines menschlichen Miteinander gesteigert.