Schelling lesen

von: Wilhelm G. Jacobs

Reihe: legenda, Band: 3

frommann-holzboog Verlag e.K. , 2004

ISBN: 9783772830211 , 164 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 32,00 EUR

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Schelling lesen


 

10. Vernunft und Offenbarung (S. 129-130)

Die Zeit des Mythos ist zerfallen und vom Christentum abgelöst. Daher kann eine Philosophie, welche die Geschichte begreifen will, nicht genügen. Auch das Christentum verlangt, begriffen zu werden. Dieser Aufgabe wendet sich die ‚Philosophie der Offenbarung‘, die Schelling in den letzten Jahrzehnten seines Lebens konzipiert, zu. Sie ist in zwei Texten erhalten, einmal in der sogenannten ‚Urfassung‘1, sodann in den ‚Sämmtlichen Werken‘ 2. Im ersten Text umfaßt sie über siebenhundert, im zweiten gar über achthundert Seiten.

Es ist selbstverständlich, daß hier der ganze Gehalt dieses Werkes nicht zusammenzufassen und zu vermitteln ist. Es kann hier nur darum gehen, den Begriff der Philosophie der Offenbarung zu erläutern. Dazu ist es nötig, zuerst den Begriff der Philosophie des späten Schelling überhaupt darzustellen. Für diesen teilt sich die Philosophie in zwei Weisen der Reflexion, in die negative und die positive Philosophie. Dieser Unterschied ist in einem zweiten Schritt zu erläutern. Die Philosophie der Offenbarung ist positive Philosophie. Dieser Zusammenhang ist im dritten Schritt vorzuführen. Zuletzt ist zu versuchen, den grundlegenden Gedanken der Philosophie der Offenbarung vorzustellen.

10.1. Schellings Begriff der Philosophie


In seiner ‚Einleitung in die Philosophie‘ von 1830 formuliert Schelling so: „Die Philosophie ist, was schon ihr Name aussagt, ein Wollen, ein Streben nach Weisheit. Worin aber dieses primitive Wollen, dieses erste Bedürfnis der Menschheit besteht, darüber herrscht wohl kein Zweifel. Nicht um das, was jemand meint, sondern um das, was wirklich ist, ist derselben zu tun. Gott, Mensch, Natur, Freiheit und Moralität, diese sind die Angelpunkte jenes primitiven Bedürfnisses, darüber ist man auch von je her in allen Philosophien im Reinen, […] nur über die Art der Begründung dieses Wissens kann man sich nicht vereinigen“.

Die Philosophen sind sich also einig, daß sie Wissen wollen, und zwar, wie die genannten Gegenstände des Wissens zeigen, das für den Menschen zu wissen Wichtigste. Dieses Wissen haben die Menschen nicht; es ist ihnen ein Bedürfnis und sie müssen danach streben. Die Differenzen der Philosophien liegen dort, wo sie nach der aufgezeigten Lage der Dinge liegen müssen, in den Versuchen, dieses Wissen als ein durch Gründe halt- und ausweisbares zu finden. In der ersten Vorlesung der ‚Philosophie der Offenbarung‘ betont Schelling ebenfalls, daß es in der Philosophie um die „das menschliche Bewußtseyn aufrecht erhaltenden Ueberzeugungen“ geht, daß hier die beunruhigenden „Fragen beantwortet werden, auf welche es in allen andern Wissenschaften keine Antwort gibt“ und daß es in der Philosophie um das Ganze geht. Schelling erläutert die Stellung der Philosophie zu anderen Wissenschaften am Beispiel der Mathematik, die in sich selbst fortschreite, jedoch sich selbst nicht begreife; „denn sie gibt keine Rechenschaft über sich selbst, über ihre eigne Möglichkeit“.